Vom Auftauchen und Verschwinden

Thema und Melodie – die Musik nimmt dem Volk das Lied und macht es zur Kunst.

Wir haben gesehen, dass vorbürgerliche oder nicht bürgerliche Musik an die Anlässe von Hof und Kirche gebunden waren. Diese Anlässe waren Texte oder Beschäftigungen wie Repräsentieren, Unterhaltung oder Tanz. In der bürgerlichen Musik trat nun ein völlig neues Moment hinzu: Musik wurde geschrieben, um angehört zu werden und zu sonst keinem Zweck. Das soll nicht heißen, dass der Text nun aus der Musik verschwindet, es wird sogar eine neue Musikgattung erfunden, die gemeinsam mit der klassischen Dichtung das Licht der Welt erblickt, nämlich das Kunstlied. Im Unterschied zum gleichzeitigen Verfassen von Texten und Musik in der  mittelalterlichen Kunst oder bei liturgischen Texten tritt nun die Musik ihre Vorherrschaft über den Text an. Ebenso wird weiterhin getanzt werden, aber die Tanzmusik lässt wenigstens teilweise ihre Hervorbringungen wie Menuett, Walzer, Tango oder Polonaise im Konzertsaal ohne Tanz, aber dafür elaboriert und kunstvoll ausgestaltet hören.

Und das ist das Neue an der Musik, die nun die so genannte absolute Musik hervorbringen wird. Die Musik dient nur noch dem Anhören. Zur Symphonie oder zum Konzert geht das bürgerliche Publikum nun mit anderer Einstellung als das höfische – abgesehen davon, dass im Konzerthaus, in der Akademie Eintritt gezahlt wird. Während sich der Hof zur musikalischen Darbietung prunkvoll kleidet, um seinesgleichen zu beeindrucken und zu sich selbst zu repräsentieren, kleidet sich das bürgerliche Publikum in s Festtagsgewand, um die Musik und die Kunst zu ehren. Die Gefühle, die der Kunst entgegengebracht werden, gemahnen, wenn auch weltlich, an religiöse Hingabe und Erlösung; das Prinzip der Weihe und Anbetung wird von der Gottheit auf die menschliche Schaffenskraft übertragen und die Musik wird dieser Tatsache Ausdruck verleihen. Auch die Dauer der musikalischen Veranstaltungen von einigen Stunden Länge voll konzentriertem Zuhören deutet darauf hin, dass der reine Unterhaltungs- und Untermalungscharakter verschwindet und Musik als Kunst ihr Eigenleben entfaltet. Besonders auffällig wird dies in der Pop- und Jazzmusik, die auch ihren Tanz- und Unterhaltungscharakter teilweise (oder großteils) aufgibt und ins Konzerthaus zieht oder wenigstens in Lokale (seien es Stadien oder kleine Klubs), in denen nicht getanzt, sondern zugehört wird.

Da Musik nun für sich selbst und für das Genie ihres Schöpfers steht, drückt sie nur noch sich selbst aus. Nicht die spielerische oder handwerklich kunstvolle Unterordnung unter den Text, nicht die formelle Virtuosität des Tanzes wird nun beachtet, sondern die Entwicklung des musikalischen Geschehens aus sich heraus. Eine neue Form des Komponierens entsteht dafür, die Sonatenhauptsatzform, die in den neuen Gattungen Symphonie und Sonate angewandt wird. In dieser Form muss sich die musikalische Schöpfung entwickeln und entfalten und auf dieser Entfaltung und Entwicklung liegt nun das Hauptaugenmerk. Das Thema wird der Ausgangspunkt des Musikstücks, die kompositorische Idee sozusagen. Oft wird diesem Thema ein zweites, ein Seitenthema, dazugestellt, aber hier haben wir es nicht mehr mit einem dialogischen Vorgang zu tun wie etwa beim barocken Ritornell oder beim call and response der Abfolgen von solo und tutti oder bei cantus firmus und Chor, sondern mit einer Entwicklung des musikalischen Geschehens aus beiden Themen heraus. Es ist gewiss kein Zufall, dass Hegel das Konzept der Dialektik etwa zeitgleich entwickelt, ein Konzept, das ebenso auf die Gesetzmäßigkeiten von Entwicklungen abzielt wie die Sonatenhauptsatzform.

Insgesamt entspricht diese Art von musikalischem Denken und Wirken durchaus auch mit ihrer Abkehr vom Anlass und ihrer Hinwendung zur reinen Musik dem Einbruch des Abstrakten in die bürgerliche Welt, ihr Denken und ihre Kunst. Dennoch bleibt die Melodie als musikalische Idee bestehen. Das romantische Thema kann die Form einer Kantilene, einer schön singbaren Melodie, annehmen und so den Akkord des Themas der Klassik relativieren. Zusätzlich entfaltet die Melodie ihr Eigenleben in den neuen Formen des Liedes und in der Oper, sobald diese den Nummerncharakter aufgibt und sich dem Realismusgebot annähert, also versucht, die Melodie zum psychologischen Ausdruck der handelnden Figuren zu machen. Das ist eine Entwicklung, die von den Opern Glucks bis zur Filmmusik reicht.

Das Kunstlied wiederum (the lied oder il lied als Fremdwort im Englischen oder Italienischen) macht die Melodie zum nationalen empfindsamen (deutschen) Ausdruck der Volksseele, deren Lieder nachempfunden werden. Diese Entwicklung zieht sich von der Klassik und Romantik bis in die erste Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts, das nationale pädagogische Musikstile hervorbringt. Das Lied setzt also vehement die Melodie wieder in ihr Recht, allerdings in ein neues: nicht mehr Koloratur und „geläufige Gurgel“ (wie es Mozart einmal spöttisch nannte) ist wichtig, sondern der psychologische, ideologische, volkshafte Ausdruck. Dem entspricht dann auch die Textvorlage, die ebenso vom imaginierten Volk angeblich gewonnene romantische Dichtung – und Goethe hat sehr genaue Vorstellungen, an denen er die Vertonung seiner Lyrik misst.

In diesem Licht ist auch das Projekt des Verlegers George Thomson aus Limekilns, Fife, (1757-1851) zu sehen, der schottische, walisische und irische Melodien sammelte, Robert Burns (1759-1796) und Walter Scott (1771-1832) (und andere) darauf „schottische“ Texte schreiben ließ (in scots, also der englischen Variante, die in Schottland gesprochen wurde, nicht in gälisch) und die Melodien zum kammermusikalischen Satz an Komponisten wie Beethoven, Haydn oder auch Johann Nepomuk Hummel (1778-1837) oder an Leopold Koželuh (1747-1818) (und andere) sandte; die neue nationale Idee war also von Beginn an als internationale Avantgarde denkbar, als Klimax bürgerlicher Existenzweise.